Frau Dr. Lewitzka, etwa 10.000 Menschen nehmen sich in Deutschland jährlich das Leben. 100.000 Menschen versuchen es. Welche Personen sind besonders gefährdet?
Das Thema betrifft alle Lebensphasen. In der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen ist der Suizid die zweithäufigste Todesursache. Es nehmen sich dreimal mehr Männer als Frauen das Leben und das Risiko steigt mit zunehmendem Lebensalter. Die meisten Suizide sehen wir im Alter zwischen 50 und 60 Jahren.
Und hier sollte genau geschaut werden, was wir für Menschen im Alter tun können. Wie können wir diese Menschen stärken, sodass ihr Leben nicht durch einen Suizid endet.
Aus Forschung und Praxis wissen wir, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders gefährdet sind. Dabei spielen Depressionen, Substanzkonsum, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen aber auch alle anderen Erkrankungen eine Rolle.
Doch nicht jeder Mensch mit einer psychischen Erkrankung wird suizidal. Im Gegenteil, die Mehrheit der Menschen zum Beispiel mit einer Depression, wird nicht versuchen, sich das Leben zu nehmen.
Welche Faktoren können dazu beitragen, dass Menschen sich in einer Situation befinden, in der sie Suizid in Erwägung ziehen?
Man kann Suizide und Suizidversuche nie nur auf eine Ursache reduzieren. Die Ursachen sind vielschichtig und komplex. Neben psychischen Erkrankungen können biologische Faktoren, Schicksalsschläge, körperliche Einschränkungen, traumatische Erfahrungen in der Kindheit, finanzielle Nöte oder Einsamkeit einen Einfluss haben. Auch die Umwelt selbst beeinflusst die Suizidrate. Die Zeit, in der wir leben, ist geprägt von Krisen, Kriegen und Katastrophen. Sind wir gut darauf vorbereitet? Ich sage, das sind wir nicht.
In Anbetracht dieser vielfältigen Ursachen stellt sich die Frage: Was können wir als Gesellschaft tun, um Suizide zu verhindern?
Wir thematisieren psychische Erkrankungen inzwischen offener in der Gesellschaft und in den Medien. Mit einem durchschnittlichen Medienkonsum begegnet man täglich Beiträgen zu psychischer Gesundheit. Es ist wichtig, dass Suizide in den Medien nicht monokausal erklärt werden, weil die Ursachen komplex und vielschichtig sind. Und viel wichtiger ist es zu zeigen, wie Menschen Krisen überwinden.
Was wir als Gesellschaft wieder mehr brauchen, ist ein Gefühl des Miteinanders. Wir sollten wieder mehr aufeinander achten, nacheinander schauen. Meinem Empfinden nach möchten viele Menschen nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Persönliche Freiheit ist gut. Doch Autonomie entsteht ja auch nur, indem wir in Beziehung leben.
Stichwort Beziehungen: Inwiefern tragen soziale Bindungen zur Verringerung des Suizidrisikos bei?
Gute soziale Bindungen zu haben, ist ein wesentlicher Faktor. Das Gefühl der Zugehörigkeit kann helfen, Isolation zu vermeiden, die ein Risikofaktor für Suizid ist. Gut sozial integriert zu sein wird als Schutzfaktor angesehen. Deshalb ist es wichtig, im Zeitalter von dem v.a. im Jugendbereich eher zunehmenden Medienkonsum dafür zu sorgen, dass bereits Kinder lernen und erfahren, soziale Beziehungen einzugehen und zu pflegen. Das ist nicht automatisch durch den Schulbesuch gegeben, sondern kann hier auch als „Lebenskompetenz“ vermittelt werden.
Wie kann ich erkennen, dass jemand in meinem Umfeld suizidal ist?
Es gibt leider nicht das eine Anzeichen, das eindeutig auf Suizidalität hinweist. Im Rahmen einer Depression sind klassische Anzeichen, der zunehmende soziale Rückzug und Interessensverlust. Auch die Vernachlässigung der eigenen Körperpflege kann ein Hinweis sein. Manchmal kommt es zu konkreten Handlungen, wie dem Verschenken des Lieblingskuscheltiers oder Schreiben von Abschiedsbriefen.
Aus der Forschung wissen wir, dass sehr viele Menschen einen Suizid andeuten. Das ist oft nicht der klassische Satz, wie „Ich will mir das Leben nehmen“. Sondern Andeutungen wie „Vielleicht wäre es besser, wenn ich nicht mehr da wäre“ oder „Es macht alles keinen Sinn mehr.“
Was kann ich als Freund*in oder Angehörige*r tun, wenn ich solche Veränderungen bemerke?
Es ist wichtig genau hinzuhören und hinzuschauen und den Menschen auf mögliche Suizidgedanken anzusprechen. Denn entgegen der Vermutung, bringe ich ihn dadurch nicht auf den Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Wir müssen Menschen stärken über solche Themen zu sprechen. Denn hierbei geht es um das menschliche Begleiten und um menschliche Fürsorge. Eine Bindung zu einem Menschen in Not zu halten, ist die wichtigste Suizidprävention, die wir alle leisten können. Ein einfaches, ehrliches „Ich bin für dich da. Ich sehe, dass es gerade schwer für dich ist. Lass uns gemeinsam einen Weg finden, die nächsten Tage zu meistern“ kann enorm helfen.
Solltest du selbst Schwierigkeiten haben und momentan nicht in der Lage sein, für jemanden da zu sein, wäre es hilfreich, wenn jemand anderes diese Rolle übernehmen kann.
Was raten Sie schließlich den Betroffenen selbst?
Betroffenen empfehle ich zunächst niederschwellige Angebote zu nutzen. Dazu gehören beispielsweise die Telefonseelsorge oder U25, eine spezielle Mailberatung für Jugendliche mit Suizidgedanken, MANO – eine anonyme Onlineberatung bei Suizidgedanken für Menschen ab 26 Jahren sowie psychosoziale Krisendienste in der Nähe.
Der Hausarzt kann eine wertvolle Anlaufstelle sein. Auch wenn die Zeit für ein Gespräch beim Hausarzt begrenzt ist, ermutige ich Betroffene auch dort offen über die psychische Verfassung zu sprechen. Der Hausarzt kennt das Hilfesystem und kann weiterverweisen.
Wenn die Verzweiflung so stark ist und ich mich nicht mehr von meinen Gedanken distanzieren kann, dann sollte ich mich in einer Klinik vorstellen. Das muss nicht bedeuten, dass man direkt stationär oder gar auf eine geschützte Station aufgenommen wird. Zu wissen, wie weitere Unterstützungsmöglichkeiten aussehen können, kann Betroffene enorm entlasten.
Ein wichtiges Thema, das nun auch politisch an Bedeutung gewinnt. Was halten Sie von der im Mai vorgestellten Nationalen Suizidpräventionsstrategie?
Die Strategie ist ein erster wichtiger Schritt und enthält wichtige Maßnahmen, wie die Methodenrestriktion, einen 24/7 Krisendienst und eine zentrale Rufnummer für Menschen mit akuten Suizidgedanken. Wichtig ist es, die Risikogruppen besonders im Blick zu haben und die Wirksamkeit der Präventionsmaßnahmen auf Evidenz zu prüfen. Nun ist es entscheidend, dass die Strategie keine Absichtserklärung bleibt, sondern gesetzlich verankert wird.
Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter https://www.telefonseelsorge.de.
Weitere Anlaufstellen finden Sie hier: https://www.mhfa-ersthelfer.de/de/hilfe-und-