„Gute Arbeit fördert die seelische Gesundheit.“

„Gute Arbeit fördert die seelische Gesundheit.“

19.09.2024 | Aktionsbündnis Seelische Gesundheit

Interview mit Prof. Dr. Steffi Riedel-Heller, Universitätsprofessorin für Sozialmedizin und Leiterin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig

Welche Bedeutung hat die Erwerbsarbeit heute für die Lebensgestaltung?


Die Erwerbsarbeit ist von fundamentaler Bedeutung für die Lebensgestaltung. In unserer Gesellschaft hängen die Lebenschancen zum großen Teil davon ab. Das betrifft zum einen die Sicherung des Lebensunterhalts: Zwei Drittel der Einkünfte der Haushalte sind Erwerbseinkünfte. Aber Arbeit bedeutet noch viel mehr: Man hat soziale Beziehungen, Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzte, man gehört dazu. Arbeit strukturiert den Tag, sie ist sinnstiftend. In der Arbeit erwirbt und erweitert man Kompetenzen, erlebt Selbstwirksamkeit. Das sind alles wichtige Dinge, die mit dem Prozess der Arbeit und der sozialen Einbettung in der Arbeit zu tun haben. Und – last but not least – hat Arbeit eine gesundheitsförderliche, stabilisierende Wirkung.


Wie kann Arbeit unsere seelische Gesundheit fördern?


Gute Arbeit fördert die seelische Gesundheit. Das fällt besonders auf, wenn Arbeit fehlt. Es gibt dazu eine klassische soziologische Studie von Marie Jahoda und Kollegen („Die Arbeitslosen von Marienthal“). In dem Ort in der Nähe von Wien war eine große Textilfabrik ansässig, die 1930 von einem Tag auf den anderen schloss. Drei Viertel der 478 Familien waren davon betroffen. Die Männer wurden alle arbeitslos; das war Anfang der 1930er-Jahre und es gab kaum soziale Absicherung. Jahoda und ihre Kollegen haben untersucht, was mit einem arbeitslosen Ort passiert: Sie fanden Apathie vor, schlechte Stimmung, Gereiztheit, insgesamt eine müde Gesellschaft mit wenig Engagement und Zuversicht. Das war die erste große Studie, die untersucht hat, was bei Arbeitslosigkeit geschieht. Und sie zeichnete ein dramatisches Bild. Arbeit hat eine manifeste Funktion. Es gibt einen Lohn, aber auch latente Funktionen wie Sozialkontakte, regelmäßige Tätigkeit, Aktivierung, die Teilhabe an kollektiven Zielen – um nur einige zu nennen.
In sechs strategischen Bereichen entscheidet sich, ob Arbeit gesundheitsförderlich oder eher krankmachend ist: Wenn die Arbeitslast bewältigbar bleibt, wenn Entscheidungsspielräume bestehen,
es Anerkennung und Belohnung, ein unterstützendes Team gibt sowie Fairness, Respekt und soziale Gerechtigkeit vorherrschen, ebenso klare Werte und sinnvolle Arbeit, dann resultiert daraus Engagement und psychische Gesundheit.


In den vergangenen zehn Jahren sind die Fehlzeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um 48 Prozent gestiegen; 2023 erreichten sie einen neuen Höchststand: Was sind die Ursachen?


Es gab eine Veränderung im Diagnosespektrum und eine Zunahme bei Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen. Die Ursachen sind multifaktoriell; viele Dinge spielen eine Rolle: Belastungen von der
Corona-Pandemie wirken nach, neue Belastungen gesellschaftlicher Art durch Krieg, Umweltkatastrophen kommen dazu oder werden verstärkt wahrgenommen. Man könnte auch annehmen, dass Menschen durch die Pandemie sensibler geworden sind, sodass es nicht mehr so viel Präsentismus gibt. Sie gehen nicht mehr krank zur Arbeit, sondern lassen sich eher krankschreiben. Auch die Risiken von New Work,Veränderungen in der Arbeit, Technostress und Phänomene der Entgrenzung werden in der Wissenschaft diskutiert. Etwa durch Homeoffice, wenn zum Beispiel nach Feierabend E-Mails oder Sprachnachrichten für das Büro abgesetzt werden. Die Zusammenhänge sind komplex. Man kann nicht allein die Digitalisierung dafür verantwortlich machen. Sie hilft auch, Arbeit besser zu organisieren. Man muss sich den jeweiligen Hintergrund anschauen, etwa die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Hier profitieren einige von den Möglichkeiten des Homeoffice.
Menschen, die kein Familienleben haben, kann hingegen die soziale Unterstützung fehlen. Oft ist der derselbe Faktor Risiko und Chance zugleich. Es gibt keine einfachen Wahrheiten.


Wie können wir in einer Arbeitswelt im Wandel trotz gesellschaftlicher und persönlicher Krisen psychisch gesund bleiben?


Stressmanagement spielt eine wichtige Rolle. Dazu gehören Pausen und Methoden der Entspannung, um die Batterien wieder aufzuladen. Unterschätzt wird oft die Rolle von Sport und Bewegung. Wobei ich
damit nicht zwingend das Fitnessstudio meine. Die Bewegung in den Alltag zu bringen ist eine große Ressource, die Bewegung in der Natur ebenso. Es geht darum, Stresssignale zu erkennen und Maßnahmen der Selbstfürsorge zu ergreifen, die auf die jeweilige Person zugeschnitten sind. Außerdem sollte man die Prioritäten reflektieren. Der Verein „Irrsinnig Menschlich“ aus Leipzig bringt das mit zehn Illustrationen auf einer Postkarte gut auf den Punkt: „Positive Steps for Mental Health“, zum Beispiel „Werde sportlich aktiv“, „Frag nach Hilfe“, „Pflege Freundschaften“. Sozialkontakte spielen eine große Rolle bei der Bewältigung der Alltagsanforderungen, wozu auch die Anforderungen der Arbeit gehören.
Aber wir sind als Gesellschaft immer gut darin, zu sagen, was der Einzelne machen soll. Ich denke, wir sollten den Blick weiten und auch die Verhältnisprävention ansprechen.


Welche Maßnahmen sollten Unternehmen denn im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements für die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden entwickeln?


Es gibt einiges, das in Teams mit Führungskräften, in der Organisation insgesamt oder bei den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen getan werden kann. Führungskräfte können für das Thema
sensibilisiert werden, Unternehmen den Einzelnen und Teams Angebote machen. Wir müssen nicht nur auf Asbest, Staub oder Schadstoffe am Arbeitsplatz schauen, sondern brauchen auch eine psychische Gefährdungsbeurteilung. Das ist gesetzlich verankert und muss noch mit mehr Leben gefüllt werden.


Kleine und mittlere Betriebe (KMU) stehen beim Schutz der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz vor besonderen Herausforderungen. Was könnte hier helfen?


Große Unternehmen haben ein Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM), Personalverschiebungen sind eher möglich. Das ist in kleinen und mittleren Betrieben anders. Dort ist vielleicht der Zusammenhalt besser, aber die Wiedereingliederung schwerer. Bezüglich der Verhaltensprävention gibt es interessante Online-Tools zur Förderung der psychischen Gesundheit. Davon könnten auch kleinere Betriebe profitieren. Es gibt zudem Angebote von Partnern aus dem
Aktionsbündnis Seelische Gesundheit, etwa vom Verein „Irrsinnig Menschlich“ wie „psychisch fit in der Schule“, „psychisch fit im Studium“, „psychisch fit im Betrieb“. Die Programme sensibilisieren für psychische Gesundheit im jeweiligen Setting. Das ist ein sehr schönes Konzept im Tandem, mit jeweils einem Mitarbeitenden aus dem Verein und einer Expertin, einem Experten in eigener Sache, die ihre Erfahrungen teilen und vermitteln, dass man psychische Krisen überwinden und daran wachsen kann.
International gibt es zum Beispiel in Norwegen eine Teilzeitkrankschreibung unter anderem für psychisch Kranke. Diese reduziert die Stundenzahl, vermeidet aber einen längeren Ausstieg aus dem Beruf. Das ist kein Allheilmittel, aber eine Möglichkeit.


Die Mehrheit der Studierenden und Auszubildenden in Deutschland fühlt sich gestresst. Wie lassen sich bei jungen Menschen frühzeitig mentale Belastungen erkennen und behandeln?


Studien zeigen, dass die Rate von psychischen Erkrankungen bei Studierenden recht hoch ist. Jeder denkt hier an Prüfungsstress und Zeitdruck. Studierende und Auszubildende befinden sich in einer
Transitionsphase, im Übergang vom Elternhaus ins eigene Leben, ins Berufsleben. Das ist eine vulnerable, anstrengende Phase. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Belastung erlebt wird. Es ist leider so, dass die Mehrheit psychischer Erkrankungen irgendwann in dieser Zeit beginnen. Einige Initiativen im Aktionsbündnis haben diese Gruppe im Fokus. Sie wollen jungen Menschen niederschwellig helfen und Anlaufstellen bekannt machen. Auch die Hochschulen sind dafür sensibilisiert. Prävention ist hier wichtig, damit Studierende frühzeitig Unterstützung bekommen.


Obgleich psychische Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für eine Krankschreibung sind, scheuen sich viele Betroffene, am Arbeitsplatz offen darüber zu sprechen. Wie kann diese Stigmatisierung endlich abgebaut werden?


Offenlegen oder geheim halten – das ist eine individuelle Entscheidung. Wir können als Gesellschaft daran arbeiten oder als Arbeitgeber Bedingungen schaffen, die es Menschen ermöglichen, sich zu öffnen,
ohne dass ihnen daraus Nachteile entstehen. Wir müssen dafür sensibilisieren, dass das ein wichtiges Thema ist. Damit macht man es Menschen leichter, Vertrauen zu haben, sodass sie darüber sprechen können. Denn das kann natürlich auch entlasten.


Welchen Beitrag kann die Aktionswoche Seelische Gesundheit dazu leisten?


Das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit hat die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen im Kern. Dass wir dieses Jahr das Setting Arbeit in den Mittelpunkt rücken, finde ich sehr wichtig, weil wir so
viele Stunden am Arbeitsplatz verbringen. Die Berufstätigkeit ist eine starke soziale Determinante von Arbeit und Gesundheit. Das ist lange bekannt, aber wir vergessen das gern. Arbeit ist nicht nur Risiko,
sondern kann auch Ressource sein. Und sie ist ein zentraler und unterschätzter Faktor bei der Gesundung von Menschen mit psychischen Erkrankungen.


Wie erlangen wir mehr Zusammenhalt und Gemeinschaft am Arbeitsplatz?


Viele erleben gegenwärtig durch die Homeoffice-Regelungen eine größere Zerrissenheit in den Teams. Es wird zum Teil von mangelnder Bindung an die Arbeit und den Arbeitsplatz gesprochen. Die Funktion
des Teams wird oft unterschätzt. In der Sach- und Romanliteratur, die sich mit dem Renteneintritt befasst, wird beschrieben, dass die Kollegen fehlen – und zwar sogar die, die man nicht leiden konnte und an denen man sich gerieben hat. Das fand ich interessant. Denn man wächst an den Interaktionen, bekommt anderen Input und erweitert Kompetenzen. Es geht also nicht nur um den Zusammenhalt und das, was man an dem Team mag, sondern um alle Facetten sozialer Beziehungen.

 

 


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Zur Person
Prof. Dr. Steffi Riedel-Heller ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie DFG-Kollegiatin im Fachkollegium
Neurowissenschaften FK 2006 und im Panel Klinische Studien. Seit 2007 ist sie geschäftsführende
Herausgeberin der Fachzeitschrift „Psychiatrische Praxis“ des Thieme-Verlags. 2017 erhielt sie den
hochdotierten Forschungspreis der Hans und Ilse Breuer-Stiftung für ihre Arbeiten auf dem Gebiet der
Demenzforschung.

 

Quelle: Aktionsbündnis Seelische Gesundheit

Psychische Störungen